Arbeitsmarkt

"Der Leidensdruck ist noch nicht hoch genug"

Gegenwärtig findet ein enormer Strukturwandel statt. Dieser fordert Opfer, bietet aber auch neue Chancen. Gleichzeitig verändern sich die Anforderungen hinsichtlich Skills und Kultur. Das erfordert seitens der Arbeitgeber neue und zusätzliche Massnahmen bei der Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden. Aber auch die Arbeitnehmenden stehen in der Verantwortung.

Eine Dreijahreserhebung 2016 - 2018 der Grass & Partner AG bestätigt eine gestiegene Nachfrage für Outplacement-Dienstleistungen und Karriereentwicklungen seitens Verwaltungsrat (VR) und Geschäftsleitung. Gefragt sind massgeschneiderte Lösungen, die auch ungewöhnliche Ansätze wie den Einstieg in eine Unternehmensnachfolge statt einer neuen C-Level Position zur Option stellen. Das sind gute Nachrichten vor allem für Mitarbeitende 50+, denn deren Potenzial ist keineswegs tiefer als jenes von jüngeren Arbeitskräften, wie Walter Burkhalter, Senior Berater und Mitinhaber von Grass & Partner AG im Interview bestätigt.

Herr Burkhalter, Mitarbeitende 50+ scheinen bei betrieblichen Restrukturierungsmassnahmen immer noch besonders häufig die Opfer zu sein. Inwiefern muss uns dies Sorge bereiten?

Walter Burkhalter: Die Sorge ist nicht mehr so berechtigt wie noch vor ein paar Jahren. Die Benachteiligung von älteren Arbeitnehmenden ist nicht mehr so stark. Denn es handelt sich zumeist um Personen mit guter Aus- und Weiterbildung. Diese sind auf dem Arbeitsmarkt sehr gefragt, weil immer mehr Unternehmen den Fachkräftebedarf nicht mehr mit dem eigenen beruflichen Nachwuchs allein decken können.

Das trifft aber nicht auf alle Branchen gleich zu?

Ja. Schwieriger als etwa im Industriesektor ist die Situation im Dienstleistungsbereich. Aufgrund der schnell fortschreitenden technologischen Entwicklung können nicht alle Arbeitnehmenden Schritt halten. Aber wir stellen fest, dass die Generation 50+ hinsichtlich Digitalisierung nicht weniger «up to date» oder weniger aufgeschlossen gegenüber neuen Technologien ist als die jüngere Generation. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, den Jüngeren den Vorzug zu geben, nur weil sie eben mit den neuen Technologien aufgewachsen sind.

Ältere Arbeitnehmende sind also wieder stärker gefragt, es heisst, vor allem von KMU. Weshalb gerade von diesen?

Immer mehr KMU werden sich bewusst, dass aufgrund der demografischen Entwicklung es ihnen in acht bis zehn Jahren nicht mehr einfach so möglich sein wird, Stellen mit eigenem Nachwuchs besetzen zu können. Deshalb richten sie ihre Rekrutierung stärker auf die ältere Generation aus. Damit folgen sie auch einem politischen Appell, wonach mehr ältere Arbeitskräfte berücksichtigt werden sollen. Denn deren Engagement ist keineswegs tiefer als bei Jüngeren, die Loyalität zum Arbeitgeber ist sogar eher noch höher, da sie sich zumeist in einer Lebensphase befinden, in der mehr Stabilität erwünscht ist. Die «Wanderjahre» haben sie hinter sich.

Sie sagen, dass Stellen immer weniger durch eigenen Nachwuchs besetzt werden können. Das bedeutet: Es braucht mehr firmeninterne Karriere-Entwicklungsmassnahmen?

Ja. Und zwar braucht es vor allem mehr individualisierte Förderprogramme. High Potential-Programme, wie sie immer noch häufig durchgeführt werden, bringen kaum Erfolg. Es braucht massgeschneiderte Lösungen, die das Individuum berücksichtigen und auf die jeweilige Arbeitssituation zugeschnitten sind.

Das klingt nach viel Aufwand, für den KMU kaum die nötigen Ressourcen haben.

Grossfirmen haben natürlich mehr Ressourcen, richtig. In KMU setzt sich allmählich zwar die Erkenntnis durch, dass man etwas tun sollte. Aber oft bleibt es beim «Sollen», weil der Leidensdruck anscheinend noch nicht hoch genug ist. Die meisten Firmen können auf dem Arbeitsmarkt ihre Kandidaten immer noch auslesen, und sie finden für ihre Stellenprofile nach wie vor die passenden Bewerber. Da braucht es kaum zusätzliche Weiterbildungsmassnahmen, um etwaige Lücken im Profil zu schliessen.

Weshalb also sollten gerade KMU Karriereentwicklungs-Dienstleistungen von externen Anbietern nutzen?

Viele KMU haben keine eigene HR-Abteilung, und entsprechend sind Förderprogramme im Gegensatz zu Grossunternehmen nicht institutionalisiert, auch wenn ein Bedürfnis dafür eigentlich vorhanden wäre. Der entscheidende Vorteil eines externen Dienstleisters ist: Er kann unvoreingenommen und neutral die Aufgabe angehen und erzielt eine grössere Wirkung. Aber eine Voraussetzung muss sein, dass eine Bereitschaft sowohl seitens des Arbeitgebers als auch des Mitarbeitenden vorhanden ist.

Mit welchen Vorbehalten werden Sie am meisten konfrontiert?

Die meisten unserer Kunden sehen selbstverständlich den Nutzen der Dienstleistung. Es gibt aber durchaus auch Firmen, die unser Angebot ablehnen. Ich vermute, dass dort – wie gesagt – kein Leidensdruck vorliegt, die Auftragsbücher sind ja voll… Nur: Solche Firmen sollten sich Gedanken darüber machen, auch mal antizyklisch ins Personal zu investieren.

Sprechen wir doch konkret über Ihre Arbeit mit den Kunden. Wie läuft eine Beratung ab, etwa für eine Karriere-Entwicklung?

Zunächst klären wir: Wo steht die Person? Hat sie die für den nächsten Karriereschritt nötigen Skills? Auf fachlicher Seite ist dies häufig gegeben. Oft weiss man aber zu wenig über die Sozialkompetenz der Person, ihre Persönlichkeit, ihre Teamfähigkeit usw. Um dies herauszufinden, führen wir entsprechende Analysen durch und gleichen diese mit dem Anforderungsprofil ab. Stellen sich fehlende Fachkompetenzen heraus, wird eine entsprechende Weiterbildung nahegelegt, respektive ein Coaching, wenn etwa bei der Sozialkompetenz Nachholbedarf besteht.

Nächste Karriereschritte erfolgen häufig erst nach mehrjähriger beruflicher Erfahrung. Wer quasi an einem neuen «Scheideweg» steht, etwa im Alter zwischen 45 und 55, in welche Richtung sollte eine solche Person in Sachen Weiterbildung denken?

In jedem Fall muss eine Weiterbildung mit einem klaren Ziel erfolgen. Ein Nachdiplomstudium in BWL mag für 25-Jährige mit noch wenig betriebswirtschaftlicher Erfahrung sinnvoll sein, nicht aber für Menschen 50+, die eine neue Aufgabe suchen wollen. Wenn etwa ein Elektroingenieur als Quereinsteiger in einer völlig anderen Branche tätig sein will, geht dies nicht ohne entsprechende Weiterbildung ausgerichtet auf die neue Tätigkeit. Optimal erfolgt diese mit fachlicher Begleitung. Wer Interesse an etwas Neuem mitbringt, den überzeugten Willen hat und auch über die finanziellen Mittel verfügt, wird erfolgreich sein – muss sich aber dem Wettbewerb mit etablierten Berufsleuten stellen.

Sind Ihnen schon Fälle begegnet von Personen, die aufgrund ihrer Fähigkeiten eigentlich den falschen Job ausübten?

Die gibt es, sie sind aber äusserst selten. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Potenziale der Kandidaten und die Anforderungen an neue Tätigkeiten zu etwa 70 Prozent übereinstimmen. Das Gefühl, «am falschen Ort» zu sein und sein Potenzial nicht voll entfalten zu können, kann frustrierend sein. In solchen Situationen ist dann eine persönliche Standortbestimmung mit fachlicher Unterstützung sinnvoll.

Wenn es einen «ultimativen Tipp» gibt, wie man sich arbeitsmarktfähig halten kann: Wie lautet dieser?

Das wichtigste ist der Kopf! Der muss wollen! Um attraktiv im Arbeitsmarkt zu bleiben, ist stetige Weiterbildung innerhalb der Branche wichtig, z.B. indem man sich in Sachen Digitalisierung à jour hält. Man darf sich Neuem nicht verschliessen. Empfehlenswert ist es, ab einem Alter von 30 Jahren im 5-Jahres-Abstand eine persönliche Standortbestimmung zu machen.

Zum Schluss: Welche Trends beobachten Sie in Ihrer Branche?

Wir stellen eine starke Zunahme von privaten Anfragen fest. Das zeigt, dass das Bewusstsein für eine Veränderung in der Karriereplanung auch bei den Arbeitnehmenden wächst. Sie folgen dem Prinzip: Man muss wissen, was man will.